Klimamodelle oder -szenarioanalysen zeigen, wie sich das Klima unter bestimmten Umständen verändert, und helfen damit beim Management von Nachhaltigkeitsrisiken. Sowohl die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) wie auch die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) erwarten, dass Versicherer diese Instrumente anwenden – beispielsweise bei ihrer Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung (Own Risk and Solvency Assessment – ORSA).
Klimamodelle und Versicherungen
Im Zuge des Reviews von Solvency ll werden Versicherer verpflichtet, „alle wesentlichen Risiken des Klimawandels zu identifizieren und gegebenenfalls die Auswirkungen langfristiger Klimawandelszenarien auf ihr Geschäft“ zu bewerten. Davon ausgenommen sind nur Gesellschaften, die als Unternehmen mit geringem Risikoprofil eingestuft sind, so der Vorschlag zur Änderung der Solvency-ll-Richtlinie. Die EIOPA sollte bis 2023 eine spezielle aufsichtsrechtliche Behandlung von Risiken im Zusammenhang mit Vermögenswerten oder Aktivitäten prüfen, die im Wesentlichen mit ökologischen und/oder sozialen Zielen verbunden sind. Das Ergebnis dürfte der in seiner Anwendung allerdings unverbindliche „Anwendungsleitfaden zu Wesentlichkeitsbewertungen zum Klimawandel und Klimawandelszenarien in ORSA“ sein.
Von der Extrapolation zur Simulation
„Für die Betrachtung des zukünftigen Klimas wurden anfangs häufig Beobachtungswerte aus der Vergangenheit verwendet und diese für die Zukunft fortgeschrieben. Durch die sich derzeit vollziehende Klimaänderung ist eine derartige Vorgehensweise jedoch nicht mehr state of the art. Für Klimasimulationen in die Zukunft werden daher bereits seit den 1960er Jahren Klimamodelle eingesetzt,“ erläutert der Deutsche Wetterdienst (DWD) in einer Broschüre zur Klimaforschung.
Heute werden Klimamodelle anhand von einer Vielzahl von Szenarien erstellt. Die Klimaforscher bezeichnen das als Klimaprojektionen. Das sind keine „Wettervorhersagen“, sondern die Beschreibung eines kausalen Zusammenhangs für bestimmte Gegebenheiten. Globale Klimamodelle umfassen neben Atmosphäre und Ozeanen auch die Einflüsse der Hydrosphäre, der Biosphäre und der Kryosphäre.
„Jedes Klimamodell besteht aus einem 3-dimensionalen Gitter, das jeweils den gesamten Globus umspannt. Für jeden der zahlreichen Gitterpunkte muss eine Vielzahl von Parametern berechnet werden. Klimamodelle gehören zu den komplexesten und rechenaufwändigsten Modellen, die es heute gibt. Der Rechenaufwand dafür ist so groß, dass die Rechenleistung der größten Computer die Anzahl und damit den Abstand der Gitterpunkte der einzelnen Klimamodelle bestimmt“, so der DWD.
Strukturen der Forschung
Die weltweite Forschung zu den globalen Klimamodellen koordiniert das – von Sonderorganisationen der Vereinten Nationen und dem Internationalen Wissenschaftsrat (ICSU) finanzierte –Weltklimaforschungsprogramm (WCRP). Die Forschung, die durch diese Initiative unterstützt wird, basiert unter anderem auf dem Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen sowie den nationalen Verpflichtungen gemäß dem Pariser Abkommen. Diese Forschung trägt auch zur Unterstützung der Berichte der Arbeitsgruppe 1 des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) bei.
Das vom Deutschen Klimarechenzentrum (DKRZ GmbH) betriebene Weltklimadatenzentrum (World Data Center for Climate, WDC-Climate) sammelt und archiviert Klima(modell)daten und stellt diese registrierten Nutzern kostenlos bereit; beispielsweise das Regionale Klimaprojektionen Ensemble für Deutschland (ReKliEs).
Vom Emissionsszenario zum Modell
Es gibt zwei Arten von Klimamodellen: globale und regionale. Bei globalen Klimamodellen ist die räumliche Auflösung größer als 100 km (siehe Abbildung oben), womit sich die Ausprägungen des Klimawandels einzelner Regionen nicht unterscheiden lassen. Um solche Unterschiede zu berücksichtigen, werden regionale Modelle verwendet, die ein engeres Netz mit horizontalen Abständen von 1 bis 20 km haben. Sie basieren in der Regel auf den Ergebnissen der globalen Klimamodelle.
Die regionalen Modelle werden nach zwei Methoden berechnet: |
(Numerisch)-dynamische Klimamodelle simulieren mit einem höher aufgelösten dynamischen (numerischen) Modell-Parameter für Teilgebiete eines globalen Klimamodells. Beispiele sind REMO (Regionalmodell) und CLM (Climate Local Model). |
Statistische Verfahren gehen davon aus, dass die globalen Modelle im großräumigen Maßstab in der Lage sind, die Muster der atmosphärischen Zirkulation treffend zu beschreiben. Bei den meisten dieser Verfahren werden statistische Beziehungen zwischen den großräumigen Mustern/Wetterlagen und den lokalen Auswirkungen identifiziert, wobei die aus der Vergangenheit oder Gegenwart gewonnenen Beziehungen auf die Projektionen der globalen Modelle angewendet werden. Beispiele sind WETTREG (Wetterlagenbasierte Regionalisierungsmethode) und STAR (Statistisches Regionalisierungsmodell)
Quelle: Umweltbundesamt |
Zudem lassen sich die Modelle zeitlich differenzieren: Bei klassischen Klimaprojektionen wird der erwartete Klimazustand bis Mitte oder Ende eines Jahrhunderts abgeschätzt. Daneben gibt es dekadische Vorhersagen für die nächsten 10 Jahre sowie saisonale für die kommenden 12 Monate.
Klimamodelle basieren auf einer Vielzahl von Annahmen über den möglichen Verlauf von Treibhausgas- und Aerosol-Konzentrationen. Diese sogenannten Treibhausgasszenarien (RCP, Representative Concentration Pathways) fußen wiederum auf Annahmen über die weltweiten sozialen, ökonomischen, demographischen oder auch technologischen Entwicklungen im Zeitablauf. RCPs definieren potenzielle Klimapfade in Abhängigkeit von der Konzentration von Treibhausgasen, beginnend mit dem vorindustriellen Stand Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Jahr 2100 oder auch darüber hinaus. Die einzelnen RCP-Szenarien werden je nach der Stärke des zusätzlichen Strahlungsantriebs (Watt pro Quadratmeter), der durch den von Menschen verursachten Anstieg von Treibhausgasen hervorgerufen wird, benannt. Die Wahl eines bestimmten RCP-Szenarios beeinflusst wesentlich das Ausmaß der künftigen globalen Erderwärmung.
Shared Socioeconomic Pathways (SSPs) beschreiben unterschiedliche sozioökonomische, demografische, technologische, politische, institutionelle und Lebensstiltrends. Diese sind mit unterschiedlichen Treibhausgas-Emissionen (THG) und damit unterschiedlichen Treibhausgaskonzentrationen verbunden. SSP-Szenarien erfassen die Vulnerabilität, die durch die physischen Risiken des Klimawandels verursacht wird. Sie beinhalten keine explizite Beschreibung von globalen Klimaschutzmaßnahmen, können diese aber implizit voraussetzen.
Für ein Klimaszenario werden SSPs und RCPs kombiniert. Dabei kann es sich um vergleichsweise unabhängig voneinander gewählte Szenarien (SSPX-RCPY) handeln oder um einen konsistenten Modellansatz, bei dem RCP aus den sozioökonomischen Annahmen sowie aus zusätzlichen Klimaschutz-Charakteristiken des SSP folgt (SSPX-Y). In der Regel kann mehr als ein SSP zu einem bestimmten RCP-Pfad führen. Ein gegebenes SSP kann durch unterschiedliche spezifische Ausprägungen unterschiedliche Konzentrationsverläufe atmosphärische Treibhausgase definieren.
Klimamodellen haften die üblichen Schwächen modelltheoretischer Überlegungen an. So steht und fällt ein Modell beziehungsweise seine Prognose-Treffsicherheit mit der Qualität der Daten sowie der Richtigkeit und Vollständigkeit der zugrundeliegenden Annahmen. Erschwerend kommt bei diesen Modellen der besonders hohe Grad an Komplexität hinzu.
Ansätze in Praxis und Politik
Im Sechsten Sachstandsbericht des IPCC (AR6) wurden als repräsentative Pfade mit RCP1.9, RCP2.6, RCP4.5, RCP7.0 und RCP8.5 eine große Bandbreite gewählt. Die ersten beiden Szenarien hätten es ermöglicht, die im Pariser Klimaabkommen festgelegte Grenze von 2°C beziehungsweise das Ziel von 1,5°C einzuhalten, vorausgesetzt, der Höhepunkt der THG-Emissionen wäre im Jahr 2020 erreicht worden. Das Hochemissionszenario RCP 8.5 (8,5 Watt je Quadratmeter) unterstellt aufgrund fehlender politischer Vorgaben zur Reduktion von Emissionen steigende Treibhausgasemissionen. Im Kontext des bereits erwähnten konsistenten Modellansatzes werden diese RCPs mit fünf SSPs kombiniert. Dadurch entstehen Szenarien, die vom „der 1,5 Grad Weg“ bis hin zum „Der fossile Weg“ reichen.
Quelle: Umweltbundesamt; Empfehlungen für die Charakterisierung ausgewählter Klimaszenarien; S.5
Globale Zirkulationsmodelle (GCM General Circulation Model) weisen dann den einzelnen THG-Pfaden die entsprechenden physischen Risiken wie Dürre, Wirbelstürme, Starkregen zu.
Die EIOPA stellt in ihrem „Anwendungsleitfaden zu Wesentlichkeitsbewertungen zum Klimawandel und Klimawandelszenarien in ORSA“ die gängigsten Modelle und Anwendungen vor, welche die Versicherungsbranche nutzen könnte. Die Aufsicht empfiehlt, die wesentlichen Klimawandelrisiken – sowohl für Übergangs- wie auch für physische Risiken – mittels kurz- sowie langfristiger Risikoszenarien auf ihre finanziellen Auswirkungen zu untersuchen. Für die langfristige Sicht wird erwartet, dass sie gegebenenfalls mindestens zwei langfristige Klimaszenarien berücksichtigen:
- Klimawandel-Risikoszenario 1: der globale Temperaturanstieg bleibt unter 2 °C, vorzugsweise übersteigt er 1,5 °C gemäß den EU-Verpflichtungen nicht.
- Klimawandel-Risikoszenario 2: der globale Temperaturanstieg übersteigt 2 °C.
Zudem sollen die Szenarien für unterschiedliche Geschwindigkeiten analysiert werden. Als Beispiel werden die vom Central Banks and Supervisors Network for Greening the Financial System (NGFS) entwickelten Übergangspfade genannt. Die allgemein frei zugänglichen „Referenzszenarien des NGFS decken ein breites Spektrum an Szenario-Narrativen unter einem einheitlichen Rahmenwerk für die Modellierung ab“, so die BaFin im BaFinJournal vom 22.11.2022.
Umsetzung in der Assekuranz
„Klimastresstests und Szenarioanalysen können die Unternehmen wirksam darin unterstützen, ihr Nachhaltigkeitsrisiko einzuschätzen“, schreibt Dr. Hung Lai vom Grundsatz-Referat Kapitalanlage der BaFin in einem Fachaufsatz. Nach Erkenntnissen der Aufsicht haben insbesondere große Unternehmen schon viel Expertise aufgebaut. Es zeige sich aber, dass die methodischen Arbeiten an den Klimawandelszenarien und klimabezogenen Analysen noch nicht abgeschlossen seien. Viele Unternehmen stünden aber in den „Startlöchern“, um diese Methoden einzusetzen.
Fast alle Befragten untersuchten die Effekte von Nachhaltigkeitsrisiken sowohl auf der Passiv- wie auf der Aktivseite. Dabei wurden Nachhaltigkeitsrisiken grundsätzlich in traditionellen Risikokategorien erfasst. Transitorische und physische Risiken wurden gleichermaßen untersucht. Einige Unternehmen analysierten auch explizit Rechts- und Prozessrisiken. Die Befragten verwendeten Finanzmarktvariablen und makroökonomische Variablen und passten Szenarien entsprechend ihrer sektoralen und regionalen Exponierung an.
Trotz der anhaltenden Herausforderungen in Bezug auf Datenkonsistenz und Modellkomplexität geht die Aufsicht davon aus, dass in den kommenden Jahren Klimawandelszenarien und -modelle weitreichend angewendet werden können. Es sei für Versicherer aber bereits jetzt ratsam, sich kontinuierlich mit dem Thema zu beschäftigen. „Ziel der klimabezogenen Analysen ist es nicht, die Auswirkungen der vom Klimawandel ausgehenden Risiken quantitativ und präzise zu quantifizieren. Versicherer müssen durch diese vielmehr in der Lage sein, sich ein Bild über die Wesentlichkeit einzelner Szenarien zu machen und strategische Schlussfolgerungen ziehen“, so Lai.
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. (GDV) hat seine „Ansätze zur Umsetzung der aufsichtsrechtlichen Anforderungen an Klimawandelszenarien im ORSA“ überarbeitet. Die Version 2.0 zum Anwendungsleitfaden der EIOPA „soll Denkanstöße geben und Möglichkeiten aufzeigen, wie die Unternehmen Klimawandelrisiken im ORSA angehen und sich den Anforderungen der Aufsicht annähern könnten“.
Zum Nach- und Weiterlesen:
Bafin-Journal: Klimaszenarien im Feinschliff: Die Analysemethoden sind (fast) einsatzbereit