In unserem Artikel „Schadenrückstellungen: Einblick in die finanzielle Stabilität der Kfz-Versicherungsunternehmen“ haben wir bereits festgestellt, dass es deutliche Unterschiede in der Entwicklung der Schadenrückstellungen gibt. Während bei vielen Unternehmen die Schadenrückstellungen gestiegen sind, variiert die Höhe dieser Rückstellungen stark.
Außerdem haben wir gezeigt, dass auch die Schadenreservequote (Schadenrückstellung in % der verdienten Bruttobeiträge) am Markt stark variiert. Dies hängt nicht nur von der allgemeinen Reservierungspolitik der Unternehmen ab, sondern auch von der Beitragsentwicklung. Sowohl Wachstum durch neue Verträge als auch Beitragserhöhungen beeinflussen diese Kennzahl erheblich. Auf diesen Aspekt gehen wir im Folgenden noch näher ein. Während wir in unserem ersten Beitrag die zehn größten Versicherungsgruppen/-konzerne betrachtet haben, untersuchen wir nun den gesamten Markt auf Basis einzelner Unternehmen. Hierzu spannen wir eine Matrix auf, die zum einen die Schadenreservequote und zum anderen den Zehnjahresdurchschnitt der Zuwachsrate der verdienten Beiträge umfasst.
Marktweit deutliche Diskrepanzen im Wachstum und der Reserveausstattung
Die Abbildung zeigt, dass der Markt weder im Hinblick auf das Wachstum noch auf die Schadenreservequote ein einheitliches Bild abgibt. So reicht die Spanne in der Schadenreservequote von 77,6 % bis 356,1 %, während das Wachstum von -5,92 % bis 13,84 % variiert. Der durchschnittliche Marktwert beträgt jedoch 221,48 % für die Schadenreservequote und 2,77 % für das Wachstum. Diese Heterogenität haben wir nicht nur zwischen den Konzernen gesehen, sondern auch zwischen den einzelnen Unternehmen innerhalb einer Versicherungsgruppe. Ein Beispiel dafür ist der Allianz-Konzern, wo die Allianz AG (1,73 %) und die Allianz Direct (5,54 %) im innerbetrieblichen Vergleich im Zehnjahreszeitraum eher moderat wachsen, während die Allianz GCS zweistellige Wachstumsraten von 13,68 % erreicht. Gleichzeitig haben die Allianz (217,03 %) und die Allianz Direct (234,41%) eine deutlich höhere Schadenreservequote als die Allianz GCS (113,92 %). Ähnliches lässt sich beim HUK-Coburg-Konzern beobachten. Die HUK24 wächst mit 8,48 % und die HUK-Coburg Allgemeine mit 5,87 % aufgrund der breiteren Zielgruppe deutlich stärker als der HUK-Coburg VVaG mit 1,69 %. Bei den Schadenreservequoten zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Die HUK24 hat mit 154,47 % einen deutlich geringeren Wert als die HUK-Coburg Allgemeine (224,3 %) und der HUK Coburg VVaG (277,12 %).
Enorme Heterogenität im Wachstum des Kraftfahrzeughaftpflichtgeschäfts
Obwohl die finanziellen Kennzahlen der einzelnen Unternehmen stark variieren, hauptsächlich aufgrund ihrer individuellen Ausrichtungen, sollte nicht der Eindruck entstehen, dass innerhalb der Konzerne eine grundsätzlich andere Schadenreservierungspolitik verfolgt wird. Vielmehr führt ein hohes Wachstum systematisch zu einer geringeren Reservequote. In der Kraftfahrt-Haftpflicht-Versicherung wickeln sich insbesondere Personenschäden über einen langen Zeitraum ab. Folglich stammt ein großer Teil der Schadenreserven in der Kraftfahrt-Haftpflicht-Versicherung nicht aus dem aktuellen Geschäftsjahr, sondern aus länger zurückliegenden Anfall-Jahren. Das führt dazu, dass Unternehmen mit überdurchschnittlichem Wachstum tendenziell geringere Schadenreservequoten haben. Dies ist auf den sogenannten Sockeleffekt zurückzuführen: je geringer das durchschnittliche Vertragsalter, desto weniger Rückstellungen aus der Vergangenheit sind vorhanden. Umgekehrt führen schrumpfende Bestände zu hohen Reserveausstattungen, da ältere Verträge mit höheren Rückstellungen und mehr Schadenfällen relativ stärker ins Gewicht fallen. Diese Tendenz zeigt sich nicht nur in der Schadenreservequote, sondern auch bei Betrachtung der Schadenreserve pro Vertrag. In der folgenden Tabelle haben wir diese Zusammenhänge für den gesamten Markt verdeutlicht. Die einzelnen Unternehmen wurden dabei nach der Zuwachsrate im Kraftfahrthaftpflichtgeschäft (Zehnjahresdurchschnitt) sortiert.
Wie die Tabelle zeigt, ist die Heterogenität im Wachstum des Kraftfahrzeughaftpflichtgeschäfts enorm. Während manche Gesellschaften ein Wachstum im höheren einstelligen oder sogar im niedrigen zweistelligen Prozentbereich verzeichnen, sind einige Unternehmen in diesem Zweig stark geschrumpft und haben dadurch Marktanteile verloren. Zudem laufen Beitrags- und Vertragswachstum nicht immer parallel zueinander. Es ist jedoch wichtig. zu beachten, dass bei einzelnen Gesellschaften Sondereffekte berücksichtigt werden müssen. Klassischerweise sind die Wachstumsraten kleinerer Versicherer wie der Condor Allgemeine nur bedingt aussagekräftig, da der Basiseffekt die Quoten verzerrt. Eine Gesellschaft, die trotz ihrer Größe hohe Wachstumsraten und eine überdurchschnittliche Reserveausstattung zeigt, ist die Generali Deutschland Versicherung AG. Dies ist auf eine Umstrukturierung im Konzern zurückzuführen. 2019 wurde die AachenMünchener Sachversicherung AG umbenannt und erhielt Teilbestände der Generali Versicherung AG. Die hohe Schadenreserve pro Vertrag und die Schadenreservequote resultieren aus den übertragenen Reserven der Generali Versicherung AG. Die Tabelle zeigt auch, dass sich die Schadenreserve pro Vertrag maßgeblich nach dem Geschäftsmodell richtet. Beispielsweise benötigt die KRAVAG-Logistic aufgrund ihrer Spezialisierung im Bereich Logistik, Transport und Spedition eine höhere Reserve pro Vertrag, da die Durchschnittsrisiken (LKW) und folglich die Durchschnittsschäden in der Regel höher ausfallen. Ein weiteres interessantes Extrembeispiel ist die ERGO Direkt. Sowohl die Schadenreserve pro Vertrag als auch die Schadenreservequote liegen weit über dem Marktdurchschnitt. Dies lässt sich auf die Historie des Unternehmens zurückführen. In den 2010er Jahren verlor die Gesellschaft einen Großteil ihrer Beitragseinnahmen, sodass die Schadenreserven größtenteils für Verträge gebildet wurden, die 2022 gar nicht mehr im Bestand sind. Dies ist eine Erklärung für die hohe Reserveausstattung.
Schadenrückstellungen wurden weiter gestärkt
Für das Geschäftsjahr 2023 haben wir noch keinen kompletten Marktüberblick, aber es zeichnet sich ab, dass die Versicherer die Schadenrückstellungen in der Kraftfahrt-Haftpflicht-Versicherung weiter verstärkt haben und die Schadenreserven pro Vertrag per Saldo leicht steigen. Durch Beitragssteigerungen geht dagegen die Schadenreservequote geringfügig zurück. Bei den einzelnen Gesellschaften ergibt sich ein differenziertes Bild. So verändern sich beispielsweise 2023 bei der Allianz die Schadenreserven der Kraftfahrt-Haftpflicht-Versicherung im Verhältnis zu den Verträgen kaum aufgrund des Wachstums, während die Schadenreservequote leicht sinkt. Bei der HUK-Coburg Allgemeine und der HUK24 steigen dagegen trotz wachsender Bestände in der Kraftfahrt-Haftpflicht-Versicherung die Schadenreserven pro Vertrag. Auch bei diesen beiden Gesellschaften ist die Schadenreservequote leicht rückläufig. Bei der HUK Coburg VVaG sinken hingegen die Schadenreserven sowohl in Relation zu den Beiträgen als auch zu den Verträgen.
In unserer Ratingpraxis spielen sowohl die Schadenrückstellungen als auch die Schadenreservequote eine wichtige Rolle bei der Bewertung der finanziellen Stabilität von Versicherungsunternehmen. Im Rahmen unseres Bonitätsratings analysieren wir die Schadenrückstellungen der Unternehmen sowohl hinsichtlich ihrer Historie als auch ihres potenziellen zukünftigen Reservierungsbedarfs. Folglich ist nicht nur die reine Höhe der Schadenreserven relevant. Vielmehr ist es zweckmäßig, die Abwicklung der Schadenreservierung nach Anfall-Jahren zu analysieren, um die Angemessenheit der Schadenreservierung zu beurteilen. Diese Kennzahlen sind jedoch nur ein Teil eines umfassenden Ansatzes, der auch den finanziellen Erfolg, das Wachstum, das Management der Schadenregulierung und andere Rahmenbedingungen berücksichtigt. Nur so können wir ein aussagekräftiges Urteil über die Bonität eines Unternehmens treffen. In unseren Unternehmensratings spielt darüber hinaus auch das Kundenfeedback aus der Schadenregulierung eine wichtige Rolle.
Autor: Adrian Hamm, Analyst Assekurata Rating-Agentur GmbH