Weltweit existiert eine Vielzahl an Gesetzen zu unternehmerischen Sorgfaltspflichten. Sie nehmen Unternehmen in die Verantwortung, bestehende Missstände in sozialer, ökologischer oder politisch-gesellschaftlicher Hinsicht aufzudecken und möglichst auszuschließen – nicht nur für ihr unmittelbares eigenes Handeln, sondern auch für ihre Lieferketten. Der deutsche Gesetzgeber hat nachgezogen und nach langem politischen Ringen das Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten (Sorgfaltspflichtengesetz) verabschiedet.
Zeitlich einige Jahre vorausgegangen war unter anderem der Nationale Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ (NAP) der Bundesregierung aus dem Jahr 2016. Der NAP gab Unternehmen eine freiwillige Selbstverpflichtung an die Hand, um die Menschenrechtssituation entlang ihrer Wertschöpfungs- und Lieferketten zu verbessern. Eine Überprüfung der Bundesregierung im Jahr 2020 hat jedoch ergeben, dass nur 13 bis 17 Prozent der betrachteten Unternehmen die Anforderungen aus dem NAP erfüllen. Insofern verwundert es nicht, dass dem auf Freiwilligkeit basierenden Aktionsplan trotz scharfer Kritik aus der Opposition nun ein verbindliches Gesetz gefolgt ist.
Eckpunkte des Gesetzes
Das neue Lieferkettengesetz greift verschiedene Sorgfaltsbereiche auf und zielt auf die Einhaltung von Menschenrechten und den Schutz natürlicher Ressourcen ab. Im Fokus stehen arbeitsrechtliche Aspekte wie Kinderarbeit, Zwangsarbeit, Lohnausbeutung und Diskriminierung, aber auch Umweltaspekte wie die Gewässer- und Luftverunreinigung, schädliche Lärmemissionen oder übermäßiger Wasserverbrauch. Das Gesetz gilt für Unternehmen in Deutschland mit mindestens 3.000 (ab 01.01.2023) beziehungsweise 1.000 inländischen Mitarbeitern (ab 01.01.2024). Es sieht unmittelbare Sorgfaltspflichten für Unternehmen und ihre direkten Zulieferer vor. Mittelbare Sorgfaltspflichten für weitere nachgelagerte Lieferantenstufen bestehen (nur) bei belastbarer Kenntnis von Verstößen. Die Geschäftsleitung eines Unternehmens hat sich regelmäßig über die Arbeit des zuständigen Mitarbeiters beziehungsweise internen Menschenrechtsbeauftragten zu informieren. Darüber hinaus müssen Präventions- und Abhilfemaßnahmen definiert und ein Beschwerdeverfahren eingerichtet werden.
Die Einhaltung der Sorgfaltspflichten kontrolliert das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), das im Falle von Zuwiderhandlungen Bußgelder von bis zu zwei Prozent des jährlichen Umsatzes sowie einen zeitweiligen Ausschluss von öffentlichen Vergabeverfahren aussprechen kann. Im Rahmen der Dokumentations- und Berichtspflicht müssen die Unternehmen jährlich einen Bericht über die Erfüllung der Sorgfaltspflichten erstellen, der spätestens vier Monate nach Geschäftsjahresabschluss im Internet zu veröffentlichen ist. Damit wird die Nachhaltigkeitskommunikation in die Öffentlichkeit um eine weitere Facette reicher.
Integration in das Risikomanagement
Das neue Gesetz ist branchenübergreifend angelegt. Es adressiert damit auch deutsche Versicherungsunternehmen von entsprechender Größenordnung, die fortan zu einer risikoorientierten Lieferkettensteuerung verpflichtet werden. Hierfür ist die Einführung eines funktionsfähigen Risikomanagements erforderlich, bei dem die Unternehmen jährlich und anlassbezogen in definierten Handlungsfeldern eine Risikoanalyse durchführen. Methodisch sind die Versicherer bei der Umsetzung der neuen Vorgaben in einer guten Ausgangsposition, gehört doch ein professionelles Risikomanagement zu ihrem Kerngeschäft und ist längst ein Teil der aufsichtsrechtlichen Vorgaben unter Solvency II.
Inhaltlich ist die Anwendung des neuen Gesetzes allerdings nicht zu unterschätzen, zumal noch hinreichend Rechtsunsicherheit über die genaue Umsetzung besteht. Eine vernünftige Risiko- und Gap-Einschätzung erfordert eine detaillierte Datenbasis über die Nachhaltigkeitsfaktoren in den eigenen Lieferketten, die heute meist noch nicht vorliegt. Im Zuge der Risikobeurteilung müssen dann auch langjährig eingespielte Lieferprozesse grundlegend auf den Prüfstand gestellt werden. Genügen bestimmte Geschäftspartner letztlich nicht (mehr) den Anforderungen, müssen Lieferprozesse neu gestaltet, vertraute Geschäftsbeziehungen geändert oder aufgekündigt und neue Partner gefunden werden.
Versicherer in der Verantwortung
Im Sinne der allgemeinen Verbesserung von Umwelt- und Sozialstandards könnte sich der Aufwand lohnen. Zwar mag man die Anfälligkeit für Menschenrechtsverletzungen eher in den Wertschöpfungsketten der Textil-, Elektro- oder Nahrungsmittelindustrie verorten als in der Versicherungswirtschaft. Trotzdem können auch Versicherer mit ihrer hohen Kapitalkraft und Einkaufsmacht eine positive Nachhaltigkeitswirkung über Ländergrenzen hinweg erzielen. Dabei geht es nicht nur um den klassischen Bezug von Waren und Dienstleistungen für die eigene Betriebsorganisation, sondern auch um die Gestaltung des Geschäftsmodells, beispielsweise über die Auswahl nachhaltiger Geschäftspartner in der Schadenregulierung oder das Angebot von bezahlbarem Versicherungsschutz für Menschen in Entwicklungsländern.
Noch größer wäre der Impact, wenn Versicherer die neuen Standards analog auch in ihr Underwriting einfließen ließen und dabei Firmenkunden, denen es an menschenrechtlicher oder ökologischer Verantwortung empfindlich mangelt, keinen Versicherungsschutz mehr anbieten. Dies mag heute noch Zukunftsmusik sein, das Lieferkettengesetz ist aber ein impliziter Fingerzeig in diese Richtung. Vor allem aber sind die neuen Vorgaben ein weiterer regulatorischer Mosaikstein für ein nachhaltiges Wirtschaften. Sie betreffen größere Versicherungsunternehmen direkt, dürften perspektivisch aber auch auf kleinere Anbieter ausstrahlen und damit die Assekuranz insgesamt stärker in die Verantwortung nehmen. Im Gegenzug bieten strategisch integrierte und transparente Lieferketten aber auch die Chance, sich langfristig krisenresilient und wettbewerbsfähig aufzustellen.
Autor: Lars Heermann (Bereichsleiter Analyse und Bewertung Assekurata Assekuranz Rating-Agentur GmbH)