Durch den Klimawandel verändert sich die Risikolandschaft dramatisch – bis hin zur Unversicherbarkeit von Risiken. Der Verlust der Versicherbarkeit ist im Report „Interconnected Disaster Risks“ der Universität der Vereinten Nationen – Institute für Umwelt und Menschliche Sicherheit mit Sitz in Bonn – einer von sechs Risiko-Kipppunkten. Solche verbundenen Katastrophenrisiken können irreversible, katastrophale Auswirkungen haben.
An der Schwelle mehrerer Risiko-Kipppunkte
„Indem wir maßlos unsere Wasserressourcen ausbeuten, die Natur und die Artenvielfalt zerstören und sowohl die Erde als auch den Weltraum verschmutzen, bewegen wir uns gefährlich nahe an den Rand mehrerer Risiko-Kipppunkte, die genau die Systeme (z.B. Wasser-, Lebensmittel-, Transport-, Informations- und Ökosysteme) zerstören könnten, von denen unser Leben abhängt“, sagt Dr. Zita Sebesvari, Hauptautorin des Interconnected Disaster Risks Berichts. Sie ist die stellvertretende Direktorin des Instituts für Umwelt und menschliche Sicherheit (EHS) der in Bonn ansässigen Universität der Vereinten Nationen (UNU). „Darüber hinaus verlieren wir durch sie auch einige unserer Werkzeuge und Möglichkeiten, um mit zukünftigen Katastrophenrisiken besser umgehen zu können.“
Der Studie zufolge ist ein Risiko-Kipppunkt erreicht, wenn ein bestimmtes sozioökologisches System nicht mehr in der Lage ist, Risiken abzufedern und die erwarteten Funktionen bereitzustellen. Es handelt sich also um Schwellenwerte, deren Überschreitung irreversible, katastrophale Veränderungen auslösen. Durch Rückkopplungsprozesse können zudem weitere Kipppunkte überschritten werden mit der Folge einer Kettenreaktion.
Über Kipppunkte wird vor allem im Zusammenhang mit der Forschung zum Klimawandel viel gesprochen. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung listet beispielsweise 16 Kipppunkte auf. Doch Kipppunkte sind nicht immer physischer Natur, weshalb der Bericht die neue Kategorie „Risiko-Kipppunkte“ vorschlägt.
Stellvertretend für „zahlreiche“ Risiko-Kipppunkte, „denen wir uns nähern“, werden diese sechs Schlüsselbeispiele aufgeführt:
- Beschleunigtes Artensterben
- Erschöpfung des Grundwassers
- Gletscherschmelze
- Weltraumschrott
- Unerträgliche Hitze
- Verlust von Versicherbarkeit
Seit 2021 veröffentlicht das UNU-EHS diesen Report jährlich. Die beiden vorherigen Ausgaben hatten jeweils zehn aktuelle Katastrophen unter die Lupe genommen, um deren Zusammenhänge untereinander und mit menschlichem Handeln zu analysieren.
Verbundene Lösungen
Verbundene Risiken erfordern miteinander verbundene Lösungen, so die Studie. Möglich sind:
- Vermeiden – Maßnahmen setzen an Ursachen und Treibern an, um das Überschreiten des Kipppunkts zu vermeiden
- Anpassung – Prävention, um die Auswirkungen von nicht vermeidbaren Risiko-Kipppunkten zu bewältigen
- Verzögerung – Maßnahmen, die das Fortschreiten in Richtung von Kipppunkten oder die möglichen schlimmsten Auswirkungen verlangsamen
- Transformation – grundlegende Neugestaltung des Systems
Damit ergeben sich für die Studienautoren Einteilungen:
- Vermeidung-Verzögerung
- Vermeidung-Transformation
- Anpassung-Verzögerung
- Anpassung-Transformation
Wer wisse, in welche der Kategorien eine Lösung falle, könne beurteilen, welche Ergebnisse sich erzielen lassen und welche Kompromisse zu erbringen seien. Die Studienautoren raten dazu, die Lösungskategorien zu kombinieren, um „Implementierungsbarrieren“ zu überwinden und das beste Ergebnis zu erzielen. Denn: „Jedes System fungiert als Faden in einem Sicherheitsnetz, das uns vor Schaden bewahrt und unsere Gesellschaft unterstützt. Wenn das nächste System kippt, wird eine weitere Saite durchtrennt, was den Gesamtdruck auf die verbleibenden Systeme erhöht. Daher muss jeder Versuch, das Risiko in diesen Systemen zu reduzieren, diese zugrunde liegenden Zusammenhänge anerkennen und verstehen. Aktionen, die sich auf ein System auswirken, haben wahrscheinlich Konsequenzen für ein anderes. Daher müssen wir vermeiden, in Silos zu arbeiten und stattdessen die Welt als ein vernetztes System betrachten,“ resümieren die Autoren.
Die weitreichenden Folgen von Unversicherbarkeit
„Immer schwerwiegendere Gefahren treiben die Kosten für Versicherung, bis sie nicht mehr zugänglich oder erschwinglich ist,“ so die Studie. sei diese Schwelle einmal überschritten, verlören die Menschen ihr wirtschaftliches Sicherheitsnetz. Das führe zu kaskadenartigen sozioökonomischen Hochrisikogebieten.
Am Beispiel der Wohngebäudeversicherung zeigt die Studie das Problem der Unversicherbarkeit.
Wetterbedingte Katastrophen verursachten 2022 weltweit wirtschaftliche Verluste von 313 Milliarden Dollar. Die Studie zitiert hier eine Schätzung von Aon. Die Kosten für derartige Katastrophenschäden sind somit sieben Mal höher als noch in den 1970er Jahren. Prognosen zufolge wird sich die Zahl der schweren und häufigen Katastrophen bis 2040 verdoppeln (Prognose des Swiss Re Institute, 2001). In besonders schadenbelasteten Gegenden haben sich die Prämien für die Wohngebäudeversicherung seit 2015 um bis zu 57 % verteuert (Kamin, 2023). In derart risikoexponierten Gebieten reagiert die Assekuranz mit Marktaustritten oder Einschränkungen der Deckung hinsichtlich Art und Umfang.
Der Schwellenwert Unversicherbarkeit ist erreicht, wenn
- die Versicherung nicht mehr verfügbar ist,
- Deckungsschutz nicht mehr im ausreichenden Maße zur Verfügung steht, oder
- der Schutz für bestimmte Gruppen nicht mehr erschwinglich ist.
Die Studie zitiert weitere Experten, wonach in Australien bis 2030 etwa eine halbe Million Häuser wegen des zunehmenden Hochwasserrisikos als nicht mehr versicherbar gelten dürften.
Für die Hausbesitzer ist der fehlende Versicherungsschutz nicht nur im Schadenfall eine finanzielle Belastung, sondern auch beim Verkauf. Die Unversicherbarkeit führt zu Abschlägen bei Transaktionen. Ohne den Nachweis einer Versicherung erhalten Personen mit geringerem Einkommen zudem oft keine Immobilienkredite. Die Studie geht von einer wachsenden gesellschaftlichen Ungleichheit aus – in derart schadenträchtigen Gegenden bleiben nur diejenigen, die sich den Wegzug nicht leisten können. Und es gibt laut der Studie weitere Folgen: Der Verlust der Versicherung beeinträchtigt erheblich die finanzielle Widerstandsfähigkeit von Haushalten und Unternehmen. Denn im Schadenfall sind sie nicht mehr oder nur bedingt in der Lage, den Wiederaufbau zu finanzieren. Dies macht sie anfällig für einen Teufelskreis der Verschuldung oder abhängig von Wohltätigkeit bzw. staatlicher Hilfe.
Kurzum: Die Unversicherbarkeit zieht den Verlust an persönlicher Sicherheit und Wohlbefinden, finanzielle Instabilität sowie begrenztes Wirtschaftswachstum nach sich – und über die bei Katastrophen zu beobachtende Zunahme an psychischen Erkrankungen auch die Belastung von Solidaritätssystemen wie Arbeitslosen- und Gesundheitsdienste.
Die Studienautoren weisen aber auch darauf hin, dass aufgrund sozialen und wirtschaftlichen Drucks immer mehr Gebiete besiedelt werden, die anfällig für Extremwetter-Ereignisse sind. Eine Versicherung sei dann am „nützlichsten“, wenn sie mit anderen Maßnahmen zur Risikominderung kombiniert werde. Sie dürfe „kein Freibrief für ein Leben in gefährlichen Situationen“ sein. Es bedürfe transformativer Ansätze zur Bewältigung der zugrunde liegenden sozialen und ökologischen Ursachen.
Im Technischen Bericht, den es für jeden der sechs Kipppunkte gibt, werden Lösungen zur Schaffung und zum Erhalt eines „lebensfähigen Versicherungssystems“ vorgeschlagen, die Versicherer, Regierungen und gefährdete Menschen einbeziehen. Das beginnt bei der Eindämmung des Klimawandels – denn die Folgen einer globalen Erwärmung von 3-4 °C gelten als nicht versicherbar.
Die Assekuranz solle transparenter, innovativer und vorausschauender agieren. Mögliche Maßnahmen könnten für sie sein:
- Daten und Modelle über Risiken sowie bereits eingetretene Schäden mit der Öffentlichkeit, lokalen Behörden und Gemeinden teilen, um die Risikowahrnehmung und das -bewusstsein zu verbessern
- Kooperation mit der öffentlichen Hand bei der Bereitstellung klarer und leicht verständlicher Informationen über Gefahren und Exposition
- Anreize für Anpassungsmaßnahmen mit den Versicherungsprämien schaffen
- neue Underwriting-Produkte anbieten, die die Entwicklung naturbasierter Lösungen und grüner Technologien unterstützen
- in ihren Versicherungsbedingungen eine resilientere Landnutzungsplanung festschreiben
- Investitionen in klimafreundlichere Portfolios umschichten
Die öffentliche Hand sollte eine wirksamere Anpassung an Risiko-Kipppunkte fördern. Dabei müsse sie ihre Autorität mit Rechtsrahmen und Vorschriften nutzen, um die Verpflichtung zur Anpassung an Naturgefahren und zur Verringerung des Katastrophenrisikos zu verankern. Zudem könne sie Anreize für Anpassungsmaßnahmen von Unternehmen und Privatpersonen schaffen, Rechtsinstrumente wie das Baurecht stärken, um die Risikoprävention zu erleichtern und die Flächennutzung regulieren. Eine Abdeckung hoher Risiken sei zudem über verschiedene Formen von Risikopooling möglich. Die öffentliche Hand solle Strukturen und Behörden schaffen. Solche Stellen, die für die Gefahrenabwehr zuständig wären, würden auch die Koordination zwischen den Sektoren verbessern, die lokal wirksame Pläne zur Schadensbegrenzung entwickeln und verwalten könnten.
In Deutschland hatte nach der Flutkatastrophe erneut die Debatte um eine Pflichtversicherung für Elementarschäden eingesetzt – immerhin ist rund jedes zweite Gebäude nicht gegen Elementarschäden versichert. Der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) hatte ein Gesamtkonzept vorgelegt, das neben einer Versicherungslösung auch verbindliche Schritte zur Klimafolgenanpassung sowie staatliche Unterstützung beim Eintritt eines „200-Jahres-Schadens-Ereignisses“ vorsieht. Eine Einigung mit den Bundesländern steht noch aus.