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Die Grundfähigkeitsversicherung in der vertrieblichen Praxis

Die Grundfähigkeitsversicherung in der vertrieblichen Praxis

Die Grundfähigkeitsversicherung ist vertrieblich einfach, weil die Kunden vermeintlich verstehen, was sie erwerben. Aber in der Regel stimmen die Kundenvorstellungen nicht mit dem Leistungsumfang in den Bedingungen überein. Wenn ich das Produkt mit gutem Gewissen empfehlen will, dann muss ich meinen Kunden also erklären, was es kann, aber noch mehr, was es nicht kann.

Dazu ist es am Zielführendsten, wenn wir alles vergessen, was wir aus dem Marketing der Versicherer gehört haben. Dazu gehört zuvorderst, dass die Grundfähigkeitsversicherung dem Wesen nach nicht per se eine Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung ist. Grundsätzlich hat sie nämlich keinerlei Bezug zu einem Beruf.

Sie leistet, wenn der Versicherte infolge einer Krankheit oder eines schweren Unfalls körperlich so eingeschränkt ist, dass er eine Grundfähigkeit verliert.

Viele Gemeinsamkeiten mit der Dread-Disease-Versicherung

Somit gleicht die Grundfähigkeitsversicherung eher einer Dread Disease, also einer Versicherung gegen schwere Krankheiten, die eine monatliche Rente leistet, aber halt nicht bei Eintritt der Erkrankung oder bei einem schweren Unfall, sondern erst dann, wenn der Versicherte wegen der Krankheit gesundheitlich eingeschränkt ist.

Und tatsächlich passen die versicherten schweren Krankheiten sehr gut zu den Leistungsauslösern der Grundfähigkeitsversicherung. Wer einen schweren Herzinfarkt hat, wird vermutlich für sechs Monate keine 12 Stufen hoch- und wieder heruntersteigen können oder innerhalb von zehn Minuten einen Kilometer Rad fahren. Und wer einen Schlaganfall hatte, kann vermutlich für sechs Monate keine Schraube mehr in die Wand drehen.

Auch bei der Dread Disease steckt der Teufel im Detail der Bedingungen, die ich als Vermittler dem Kunden genau erklären muss. Denn die Versicherung leistet eben nicht einfach bei Krebs. Sie leistet bei Krebs ab Stadium 2 oder wenn der Versicherte wegen der Krankheit operiert werden muss und eine Chemotherapie notwendig ist.

Sowohl bei der Dread-Disease- als auch bei der Grundfähigkeits-Versicherung leistet der Versicherer nur dann, wenn der Auslöser genau so erfüllt ist, wie es in den Bedingungen steht.

Viel Spielraum bei der Definition von Leistungsauslösern

Das ist bei der Grundfähigkeitsversicherung noch etwas komplizierter als bei der Dread Disease, bei welcher der Auslöser medizinisch einigermaßen eindeutig definiert ist. Es gibt Schwellenwerte, ab wann welches Stadium einer Krankheit vorliegt. Streit kann es hier nur geben, wenn sich die Krankheit nicht eindeutig nachweisen oder die Schwere ermitteln lässt. Aber die medizinische Diagnostik ist eine recht alte und auch schon erprobte Lehre.

Das Ermitteln des Verlustes einer Grundfähigkeit ist im Vergleich dazu eine recht junge Disziplin. Außerdem sind die Begriffe viel schwammiger. Obwohl jeder sofort ein Bild im Kopf hat, wenn es beispielsweise darum geht, eine Schere bestimmungsgemäß zu benutzen, eröffnen sich hier doch recht weite Interpretationsspielräume. Zunächst ist nicht einmal klar, wozu die Schere benutzt werden soll. Ein Friseur oder ein Schneider dürfte die bestimmungsgemäße Nutzung anders interpretieren als beispielsweise ein Kindergärtner.

Aber auch das Benutzen einer Tastatur ist vielfältig auslegbar. Von ihrer Konzeption her ist sie auf die Fähigkeit ausgelegt, sie mit allen zehn Fingern zu bedienen. Versicherer verstehen darunter in der Leistungsprüfung eher, ob ich innerhalb von zehn Minuten mit einem Finger fünf Wörter tippen kann.
Bevor ich also einem Kunden eine Grundfähigkeitsversicherung vermittle, muss ich sicherstellen, dass er nicht nur eine Vorstellung von den Leistungsauslösern hat, sondern tatsächlich versteht, wann der Versicherer leistet.

Trotz der angebrachten Kritik an der Grundfähigkeitsversicherung dürfen wir aber nicht vergessen, dass die Wahrscheinlichkeit, eine der versicherten Fähigkeiten zu verlieren, nicht unmöglich ist, weshalb die Versicherung durchaus ihre Berechtigung hat.

Hinzu kommt, dass für viele eine Berufsunfähigkeitsversicherung auch aufgrund der Berufsgruppendifferenzierung viel zu teuer ist, so dass die Absicherung von Grundfähigkeiten als eine finanziell attraktive Alternative erscheint.

Da es in der Grundfähigkeitsversicherung noch keine Berufsgruppen-Differenzierung und eben auch keinen Bezug zum Beruf gibt, ist die Versicherung auch für Handwerker noch relativ günstig zu haben.

Grundfähigkeits- oder Berufsunfähigkeitsversicherung? Ein Vergleichsansatz

Und da wir ja jetzt wissen, dass die Grundfähigkeitsversicherung und die Berufsunfähigkeitsversicherung quasi nicht vergleichbar sind, können wir dann doch den Versuch wagen, denn auch Äpfel und Birnen haben mehr gemeinsam, als man landläufig denkt. Beides sind Rosengewächse und kommen aus Kleinasien.

Und auch die Grundfähigkeitsversicherung und die Berufsunfähigkeitsversicherung leisten beispielsweise unabhängig von einer versicherten Krankheit. Erstere ist aber stark eingeschränkt, was psychische Erkrankungen als Auslöser anbelangt. Von dieser Seite können wir uns also nicht sinnvoll nähern.

Aber die Leistungsprüfung läuft mehr oder weniger gleich ab. Im BU-Leistungsfall muss der Antragsteller eine gesundheitliche Einschränkung nachweisen und dann mithilfe einer Tätigkeitsbeschreibung beweisen, dass er zu 50 % berufsunfähig ist.

Bei der Grundfähigkeitsversicherung muss der Versicherte im Leistungsfall nachweisen und dann anhand der Bedingungen beweisen, dass er eine Grundfähigkeit aufgrund von Krankheit oder Unfall verloren hat. Versteht man die in den Bedingungen beschriebenen Grundfähigkeiten als eine Tätigkeitsbeschreibung, dann lassen sich über den Daumen gepeilt beide Produkte miteinander vergleichen.

Vor Vertragsabschluss zieht dies zwar einen recht hohen Aufwand nach sich, aber den scheuen wir Vermittler ja nicht. Dazu muss ich zunächst eine Tätigkeitsbeschreibung des Interessenten auf Grundlage der Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Grundfähigkeitsversicherungen erstellen. Ich muss also fragen, wie viele Meter er am Tag geht, wie lange er sitzt und ob er sich knien und bücken muss.

Dann muss ich klar machen, dass die Versicherung nicht leistet, wenn der Kunde nicht mehr arbeiten kann, weil er sich beispielsweise nur noch vier Stunden am Tag hinknien kann. Sie leistet erst, wenn er sich überhaupt nicht mehr hinknien und wieder erheben kann. Es gibt sicherlich eine Menge Erkrankungen, wo weder das eine noch das andere geht. Für die Vergleichbarkeit muss ich hier eine grobe prozentuale Schnittmenge erstellen.

Im Vordergrund stehen für mich folgende Fragen: Welche der im Arbeitsalltag wichtigen Tätigkeiten sind über die in den Bedingungen beschriebenen Grundfähigkeiten gedeckt? Wo trifft das nur zum Teil zu? Was fehlt? Wo leistet die Grundfähigkeitsversicherung vielleicht sogar, bevor sich der Interessent im Arbeitsalltag einschränken muss?

So gehe ich für alle versicherten Fähigkeiten vor. Und wenn am Ende die Schnittmenge der Grundfähigkeits-Versicherung zur BU-Versicherung größer ist, als der Beitrag im Verhältnis, dann wäre eine Grundfähigkeitsversicherung wirtschaftlich sinnvoll.

Ich muss aber als Vermittler klar machen, dass es eben (nur) wirtschaftlich vorteilhaft ist. Im Leistungsumfang dürfte die Berufsunfähigkeitsversicherung fast immer besser geeignet sein, um das Einkommen abzudecken.
Unterm Strich ist die Grundfähigkeitsversicherung maximal vertrieblich einfach zu erklären. Im Detail ist sie mindestens so komplex wie die Berufsunfähigkeitsversicherung. Erschwerend kommt hinzu, dass es noch keinen Marktstandard gibt, was den Vergleich mit einem BU-Produkt sogar einfacher macht als ein Vergleich der Grundfähigkeitstarife untereinander. Hier muss der Markt noch ein einheitliches Wertungssystem finden.
Dennoch hat das Produkt seine Daseinsberechtigung, da es die Lücke zwischen Dread Disease und Unfall ebenso schließen kann, wie es auch monatliche Mehrkosten decken kann, die mir entstehen, wenn ich zwar nicht im Arbeitsalltag, aber in der Freizeit gesundheitlich eingeschränkt bin.

 

Philip Wenzel ist Fachwirt für Versicherungen und Finanzen (IHK) und als Versicherungsmakler (BSC|Die Finanzberater) tätig, er verantwortet in der SCALA Finanzgruppe den Bereich biometrische Risiken.Mit mehreren Artikeln, Dossiers und Büchern hat er sich innerhalb der Branche einen Namen als BU-Experte gemacht. Besonders die Kombination verschiedener Produkte und die Konzentration auf die Ausgaben des Kunden sind sein Markenzeichen.Seit 2020 ist er mitverantwortlich für Worksurance.de, einem Infoportal für Endkunden, das ähnlich wie Wikipedia aufgebaut ist. Alle Experten am Markt sollen hier ihr Know-how im Sinne des Kunden bündeln. Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Kemnath in der Oberpfalz.

Autor: Philip Wenzel (Fachwirt für Versicherungen und Finanzen (IHK) und Versicherungsmakler)