Die Europäische Kommission will im Rahmen ihrer Strategie zur Finanzierung einer nachhaltigen Wirtschaft die „Zuverlässigkeit, Vergleichbarkeit und Transparenz von ESG-Ratings und Rating-Ausblicken“ verbessern. In diesem Zusammenhang haben sowohl die Kommission wie auch die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) im Frühjahr 2022 Marktteilnehmer konsultiert. Regeln sollen ab dem ersten Quartal 2023 dafür sorgen, dass Ratings sowie Rating-Ausblicke transparent sind.
Potenzielles Risiko für den Anlegerschutz
„… die steigende Nachfrage nach Bewertungen, die Erkenntnisse über das ESG-Profil eines Unternehmens liefern, sollten Hand in Hand gehen mit Garantien, die sicherstellen, dass die Informationen, auf die Bezug genommen wird, robust sind und dass die Bewertungen zuverlässig sind, um das Risiko von Greenwashing zu vermeiden“, forderte die ESMA im Januar 2021 in einem Brief an die Europäische Kommission. Denn der unregulierte Charakter von ESG-Ratings und Datenbewertungen stelle ein potenzielles Risiko für den Anlegerschutz dar. Mithin sei die Bekämpfung des unregulierten und unbeaufsichtigten Charakters des Marktes für ESG-Ratings und ESG-Bewertungsinstrumente eine der „key challenges“ für den Markt für nachhaltige Finanzierungen. Die Marktaufseher kritisieren speziell „das Fehlen einer gesetzlich verbindlichen Definition und Vergleichbarkeit zwischen Anbietern von ESG-Ratings sowie gesetzliche Vorgaben für die Transparenz der zugrunde liegenden Methoden solcher Ratings“ – und bewerben sich um die Übernahme dieser Aufgabe. Eine der Zuständigkeiten der ESMA ist bisher die alleinige, direkte Aufsicht über Ratingagenturen, die in der EU die Kreditwürdigkeit von Unternehmen (Bonitätsratings) bewerten.
Große Spannbreite
Bei ihren Bonitätsratings kommen die Agenturen üblicherweise alle zu einem ähnlichen Ergebnis für ein bestimmtes Unternehmen. Statistisch gesprochen korrelieren Kreditratings nahezu gegen eins – das ist quasi eine perfekte Korrelation. Nicht so bei den ESG-Ratings. Hier sind die Einschätzungen für ein und dasselbe Unternehmen oft sehr unterschiedlich. Dies verdeutlichen beispielsweise die Ratings für Volkswagen und Tesla:
MSCI bewertet Volkswagen mit einem B deutlich schlechter als Tesla mit einem A (drei von sieben Ratingklassen höher)
Bei Sustainalytics hingegen ist Volkswagen mit einem Score von 29,7 (medium) auf dem gleichen Niveau wie Tesla (28,6 (medium))
Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology (MIT) – Sloan School of Management (Aggregate Confusion: The Divergence of ESG Ratings) und der Universität Zürich ermittelten für die Ergebnisse der sechs ESG-Ratingagenturen KLD, Sustainalytics, Moody’s ESG (Vigeo-Eiris), S&P Global (RobecoSAM), Refinitiv (Asset4) und MSCI Korrelationen von 0,38 bis 0,71.
Diese Bewertungsunterschiede führen sie im Wesentlichen auf drei Aspekten zurück:
- Unterschiede in der Messung bzw. Bewertung von Kennzahlen und Sachverhalten („Measurement divergence“, erklärt die Unterschiede zu 56 Prozent)
- Unterschiede beim Scope, sprich dahingehend, welche Kennzahlen und Aspekte betrachtet werden („Scope Divergence“, erklärt die Unterschiede zu 38 Prozent)
- Unterschiede bei der Gewichtung der Bewertungskriterien („Weights divergence“, erklärt die Unterschiede zu 6 Prozent)
Die Autoren der Untersuchung kommen zu dem Ergebnis: „Es ist legitim, dass verschiedene Bewerter unterschiedliche Ansichten darüber haben, welche Kategorien bei ESG am wichtigsten sind.“ In der Tat ist eine Vielfalt von Meinungen wünschenswert, da die Nutzer von ESG-Ratings auch heterogene Präferenzen hinsichtlich des Umfangs und der Gewichtung haben. Die Divergenz bei der Messung ist jedoch problematisch, wenn man die Ansicht vertritt, dass ESG-Ratings auf objektiven, feststellbaren Beobachtungen beruhen sollten. Ferner plädieren die Autoren für mehr Transparenz, dies betrifft sowohl die Rating-Agenturen, die genauer darstellen sollten, was und wie sie bewerten, als auch eine größere Harmonisierung der ESG-Offenlegung durch Unternehmen. Dies schafft die Grundlage für zuverlässige und frei zugängliche Daten für alle ESG-Ratings. Regulatorisch für mehr Transparenz zu sorgen, hilft Divergenzen in der Bewertung abzubauen. Zugleich können Regulierungsbehörden dazu beitragen, die Divergenzen der ESG-Ratings verständlicher zu machen.
Das CFA Institute hat die Ratings von sechs Agenturen für 400 Unternehmen analysiert. Hier lag die Spannweite je nach Anbietervergleich zwischen 0,07 und 0,74 Prozent. Beispielsweise lag die Korrelation der Bewertung von MSCI mit S&P und Sustainalytics unter 50 Prozent. „Alles in allem sind die (…) Ergebnisse widersprüchlich und widerstreitend,“ so das Urteil der gemeinnützigen Vereinigung von Anlageexperten.
Die Uneinheitlichkeit schafft unter den Emittenten und Investoren Unsicherheit über die Qualität und Aussagekraft der ESG-Ratings. Die Rufe nach staatlichen Interventionen werden daher immer lauter.
Die Meinung der Teilnehmer
Angesichts dieser Situation hat die ESMA im Frühjahr 2022 eine Konsultation zu den Marktmerkmalen von ESG-Ratinganbietern (Größe, Struktur, Ressourcen, Einnahmen und Produktangebote) durchgeführt. Zudem ging es um die Meinungen und Erfahrungen der Nutzer/Emittenten mit den ESG-Rating-Anbietern.
„Die häufigsten Mängel, die von den Nutzern festgestellt wurden, waren die fehlende Abdeckung einer bestimmten Branche oder eines Unternehmenstyps, eine unzureichende Granularität der Daten und ein Mangel an Transparenz hinsichtlich der von den ESG-Ratinganbietern verwendeten Methoden,“ teilt die ESMA mit – und wiederholt ihr Angebot, die Europäische Kommission bei der Beurteilung der Notwendigkeit der Einführung regulatorischer Maßnahmen für ESG-Ratings unterstützen zu wollen.
An einem zweiten Konsultationsverfahren der EU-Kommission zur Nutzung und zu den Verbesserungspotenzialen von ESG-Ratings zwischen April und Juni 2022 haben 168 Betroffene (Investoren, Emittenten, Anwender und Ratingunternehmen) teilgenommen.
Zu den Ergebnissen:
- Die überwiegende Mehrheit der Befragten nutzt ESG-Ratings; 77 Prozent sogar „sehr viel“.
- 81 Prozent verwendet eine Kombination aus allgemeinen ESG-Ratings mit E, S, G oder sogar detaillierteren Bewertungen. Ein kleinerer Anteil der Befragten verwendet entweder nur Gesamt-ESG-Ratings oder nur Ratings bestimmter Elemente innerhalb der E-, S- oder G-Faktoren.
- Über 84 Prozent sind der Ansicht, dass der Markt heute nicht gut funktioniert. Die Qualität der ESG-Ratings halten zwei Drittel aber für gut bis sehr gut. Ein Drittel hält sie für schlecht.
- 83 Prozent kritisieren mangelnde Transparenz bei den von den Anbietern verwendeten Methoden.
- 91 Prozent sagen, dass die von den Anbietern angewandte Methodik erhebliche Verzerrungen aufweist.
- Über 80 Prozent halten den Markt für potenzielle Interessenkonflikte anfällig.
- 94 Prozent befürworten Interventionen in den Markt – über 80 Prozent sind dabei für gesetzgeberische Maßnahmen, der Rest für die Entwicklung einer nicht-regulatorischen in Form von Leitlinien und Verhaltenskodizes.
- Mehr als 90 Prozent nennen als Hauptelement der Intervention die Verbesserung der Transparenz über die der von ESG-Ratinganbietern verwendeten Methodik, gefolgt von der Vermeidung potenzieller Interessenkonflikte (80 Prozent), der Verbesserung der Verlässlichkeit und Vergleichbarkeit von Ratings (73Prozent), der Klärung der Ziele der verschiedenen Ratingtypen (70 Prozent) und der Klärung, was mit Ratings gemeint ist und von ihnen erfasst wird (68 Prozent).
- 82 Prozent fordern eine Zulassung/Registrierung für Ratingagenturen. 94 Prozent wollen die gleichen strengen Regeln auch für Anbieter, die außerhalb der EU ansässig, aber innerhalb der EU tätig sind.
- 97 Prozent wollen Mindestanforderungen für die Offenlegung der Methoden für ein ESG-Rating. Die meisten sind der Meinung, dass die Agenturen standardisierte Vorlagen verwenden sollten. 58 Prozent lehnen erleichterte Regeln für kleinere Akteure ab.
Die Ergebnisse dieser Konsultation wurden verarbeitet und sollen bei der Vorbereitung jeder weiteren diesbezüglichen Initiative der Kommission berücksichtigt werden. Laut dem Gesetz über die Strategie zur Finanzierung einer nachhaltigen Wirtschaft plant die EU-Kommission für das erste Quartal 2023 Regeln für mehr „Zuverlässigkeit, Vergleichbarkeit und Transparenz von ESG-Ratings und Rating-Ausblicken.“
Einschätzung und Wünsche der Versicherer
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV) nennt als „main shortcomings“ in der Stellungnahme zur ESMA-Konsultation, dass die von den Ratinganbietern verwendeten Methoden, Definitionen und Prozesse oft nicht klar und transparent genug seien. Zudem behinderten unzureichende und unklare aufsichtsrechtliche Vorgaben die Erhebung oder Zuordnung von Daten durch den Datenanbieter.
„Insgesamt sehen Versicherer die gleiche Abhängigkeit bei ESG-Ratings und -Daten, wie man dies bereits von der Bonität her kennt. Die Datenanbieter nutzen diese Abhängigkeit aus und diktieren die Preise entsprechend,“ so der Verband. Man stehe den Anforderungen nach Vergleichbarkeit, der breiten Abdeckung von ESG-Ratings und der ressourcen- und kompetenzintensiven Natur von Nachhaltigkeitsforschung und -ratings kritisch gegenüber, da dies bereits zu einer hohen Konzentration im Markt geführt habe und weiterhin führe. Dadurch entwickelten sich oligopolistische Strukturen – die Kosten für den Zugriff auf ESG-Ratings/Daten stiegen und die Freiheit bei der Auswahl an Anbietern nehme ab.
Aus den Erfahrungen mit der Beaufsichtigung von Credit Rating Agencies (CRA) ist aber auch festzuhalten, dass Regulierung nicht zwingend dazu beiträgt, Marktkonzentration zu vermindern. 92,2 % der europäischen CRA-Ratingumsätze entfallen 2020 auf die „Big Three“ (S&P 51,8 %, Moody´s 30,1 %, Fitch 10,3 %). Die Daten hat ESMA aus den Transparenzberichten der registrierten Rating-Agenturen erfasst und veröffentlicht. Dabei sieht die am 20. Juni 2013 in Kraft getretenen EU-Verordnung Nr. 462/2013 (CRA III-Verordnung) in Artikel 8d explizit vor, dass Emittenten oder verbundene Dritte, die beabsichtigen, zwei oder mehr CRAs zum Rating einer Emission oder eines Unternehmen zu beauftragen, die Bestellung von mindestens einer CRA mit nicht mehr als 10 % des Gesamtmarktanteils in Erwägung ziehen. Der bekannte Rating Advisor Oliver Everling kommt vor dem Hintergrund dieser Zahlen zu dem Schluss. „Es bleibt dabei: Die überbordende Regulierung von Ratingagenturen hat in der Europäischen Union (EU) ihr Ziel verfehlt. Es bleibt bei der Dominanz US-amerikanischer Ratingagenturen, die für die Allokation der volkswirtschaftlichen Ressource „Kapital“ auch in Europa praktisch allein maßgebend bleiben. “Nach Meinung des GDV ist ein „gewisses“ Maß an EU-Regulierung für ESG-Bewertungsanbieter erforderlich, um die genannten Probleme zu lösen. Aus Nutzersicht sollten EU-Initiativen darauf abzielen, die Kosten zu senken und zu vermeiden, dass Marktteilnehmer gezwungen werden, sich auf Drittanbieter zu verlassen. Zudem sollten Anstrengungen unternommen werden, um die Vergleichbarkeit zu verbessern. In diesem Zusammenhang wird der EU-Legislativvorschlag für die Europäische digitale Plattform für Nachhaltigkeitsinformationen „sehr willkommen“ geheißen. Sie sei entscheidend, um die Abhängigkeit von Daten und die Marktmacht der Anbieter zu verringern. Im Interesse der bewerteten Unternehmen solle eine EU-Verordnung auch potenziellen Interessenkonflikten Rechnung tragen, da die Rater häufig nicht nur Unternehmen bewerteten, sondern ihnen auch zugleich Beratungsleistungen verkauften. Da ein hohes Maß an Rating- und Datenvergleichbarkeit nur global erreicht werden könne, sollten die EU-Regulierungsinitiativen eng mit Initiativen wie dem ISSB Global abgestimmt werden, so der GDV weiter.
Eine kurze Einordnung
Interventionen sind unabdingbar, sofern es sich bei den obengenannten Mängeln um echtes Marktversagen handelt. Tatsache ist, dass der Markt für nachhaltige Finanzierungen erst durch EU-Initiativen wie den EU Green Deal an Fahrt aufgenommen hat. Die Nachfrage nach ESG-Bewertungen ist also in der Breite noch jung, auch wenn einzelne Anbieter dieses Geschäftsfeld schon lange beackern.
Adressaten der Ratings sind zunächst professionelle Anleger – und erst im zweiten Schritt über den Verkauf private Nachfrager von Altersvorsorgeprodukten u. ä. Im B2B-Geschäft – also auf gleicher Augenhöhe – sollten es die Akteure schaffen, Zuverlässigkeit, Vergleichbarkeit und Transparenz von ESG-Ratings und Rating-Ausblicken selbst herzustellen. Rating-Anbieter, die dies nicht leisten wollen oder können, werden nicht angefragt und daher vom Markt verschwinden.
Interventionen können eine derartige Marktbereinigung natürlich schneller herstellen – allerdings auch um den Preis von Überregulierung und Eintrittshürden für neue Anbieter. Oligopolistische Strukturen sind wegen des stark spezialisierten Wissens so oder so wahrscheinlich. Die Zahl der Ratinganbieter – und damit auch die Art der Preisgestaltung – hängt auch davon ab, ob sich Rater auf einzelne Nischen spezialisieren können.
Zum Nach- und Weiterlesen:
ESMA: Call for evidence On Market Characteristics for ESG Rating Providers in the EU
http://www.everling.de/marktanteile-der-us-agenturen-bleiben-ein-europaeisches-debakel/