Die Lebensversicherung steht (wieder einmal) an einem Wendepunkt. Ein unsicheres Zinsumfeld, demografische Verschiebungen sowie wachsende Anforderungen an Produkte, Geschäftsmodelle und Technologien prägen den Markt. Gleichzeitig müssen sich die Anbieter veränderten Kundenerwartungen stellen und im Wettbewerb behaupten, sowohl gegenüber anderen Lebensversicherern als auch gegenüber branchenfremden Playern wie Banken, Onlinebrokern und Fondsplattformen. Hieraus ergeben sich neue Risiken und Chancen für die Branche.
Zinswende mit Licht und Schatten
Nach vielen Jahren Niedrigzins hat die Zinswende 2022 der Kapitalanlage neue Impulse gegeben. Zudem verschafft die Auflösung der Zinszusatzreserve (ZZR) den Lebensversicherern finanzielle Spielräume. Ende 2024 belief sich der ZZR-Bestand auf 84 Mrd. € und lag damit bereits deutlich niedriger als zum Höchststand von 96 Mrd. € im Bilanzjahr 2021. Die Rückflüsse stärken die Rohüberschüsse und ermöglichen höhere Überschussbeteiligungen, zukunftsgerichtete Investitionen oder den Abbau stiller Lasten. Letztere bleiben jedoch eine große Herausforderung, da die konservative Anlagestrategie vieler Versicherer mit steigenden Zinsen zu erheblichen stillen Lasten geführt hat. Diese verdeckten Buchverluste liegen branchenweit mit über 80 Mrd. € auf ähnlichem Niveau wie der ZZR-Bestand und schränken den Handlungsspielraum in der Kapitalanlage deutlich ein. Insgesamt erwarten wir zwar eine weitere Verbesserung der Ertragslage, die Entwicklung wird jedoch stark von Vertragsbeständen und Portfoliostruktur der einzelnen Anbieter abhängen.
Branche richtet sich neu aus
Die Wachstumszahlen der Branche zeichnen ein gemischtes Bild. Zwar stiegen die gebuchten Bruttoprämien 2024 um rund 3 %, doch dieses Plus resultierte fast ausschließlich aus Einmalbeiträgen. Die laufenden Prämien verzeichneten hingegen eine schwarze Null. Parallel dazu schreitet die Konsolidierung voran: Seit der Jahrtausendwende ist die Zahl der Lebensversicherer um ein Drittel gesunken, zuletzt machten mehrere (angekündigte) Fusionen neue Schlagzeilen. Mit schrumpfenden Märkten und steigenden Kosten werden Effizienz und Skaleneffekte wichtiger, befördert durch den Einsatz moderner IT-Systeme, intelligenter KI-Lösungen und datengetriebener Geschäftsmodelle.
Das Für und Wider der Demografie
Der demografische Wandel trifft die Branche auf verschiedenen Ebenen. Viele Mitarbeiter und Vermittler stehen kurz vor dem Ruhestand. Damit drohen Know-how, Kundenbeziehungen und Vertriebskraft verloren zu gehen. Gleichzeitig erschwert der Fachkräftemangel die Gewinnung junger Talente, die andere Branchen attraktiver finden. Fehlen Nachwuchskräfte im Innen- und Außendienst, leidet die Fähigkeit, Kunden zeitgemäß zu betreuen und neue Geschäftsmodelle umzusetzen.
Auf der Kundenseite eröffnen sich dagegen neue Potenziale. Die Zielgruppen der „Best Ager“ (55–65 Jahre) und „Silver Ager“ (65+) wachsen kontinuierlich. Zugleich wird die gesetzliche Rente für die meisten Menschen nicht reichen, um den Lebensstandard im Alter zu halten. Lebensversicherer können sich gerade in diesem Umfeld mit flexiblen, verständlichen und innovativen Produkten profilieren, die passgenau auf die Bedürfnisse ihrer Kunden zugeschnitten sind. Sinnvoll sind Lösungen, die Investieren, Entsparen und Risikoabsicherung intelligent verbinden und damit eine ganzheitliche Ruhestandsplanung unterstützen. Hinzu kommt ein erhebliches Wiederanlagepotenzial: Viele ablaufende Verträge bieten Chancen, die bislang nur sehr unzureichend ausgeschöpft werden.
Ein erster Schritt ist die fondsgebundene Gestaltung der Auszahlungsphase. Während kapitalmarktnahe Policen in der Ansparphase längst etabliert sind, dominieren bei Rentenzahlungen noch klassische Verrentungsmodelle. Modernere Konzepte erlauben es hingegen, auch im Ruhestand vom Aktienmarkt zu profitieren – etwa durch fondsgebundene Renten mit Absicherungsmechanismen gegen Langlebigkeits- und Marktrisiken. Damit lassen sich flexible Entnahmepläne mit lebenslanger Absicherung kombinieren. Die große Generation der Babyboomer, die bald nach und nach in den Ruhestand geht, dürfte für solche Konzepte sehr empfänglich sein.
Politische Weichenstellungen offen
Unter der neuen Bundesregierung ist der politische Rahmen für die Lebensversicherer noch nicht abschließend definiert. Der Koalitionsvertrag sieht vor, private und betriebliche Altersvorsorge zu modernisieren, zu vereinfachen und kosteneffizienter zu gestalten. Das erzeugt Transformationsdruck für die Branche, die ihre Produkte, Beratungs- und Serviceangebote anpassen muss. Klar ist auch: Angesichts des demografischen Wandels braucht es rasche politische Entscheidungen, um die wachsende Versorgungslücke zu schließen.
Regulatorik bleibt im Fokus
Parallel zum politischen Umfeld bleibt die regulatorische Agenda im Fluss. Mit der im letzten Jahr angeordneten Neuberechnung der Übergangsmaßnahmen hat die BaFin verdeutlicht, dass die Solvenzquoten im gestiegenen Zinsumfeld auch ohne stützende Effekte tragfähig sein sollten (und dies aktuell auch sind). Hinzu kommt die neue Insurance Recovery and Resolution Directive (IRRD), die ab 2027 erweiterte Anforderungen an Krisenpläne und Abwicklungsfähigkeit vorsieht. Seit Januar 2025 gilt zudem der Digital Operational Resilience Act (DORA), der striktere Vorgaben zur digitalen Widerstandsfähigkeit etabliert und dessen Umsetzung vielfach ein echter Kraftakt ist. Der ebenfalls in Kraft getretene EU-AI-Act stellt hohe Anforderungen an den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in sensiblen Versicherungsprozessen. Zudem verstärkt die Aufsicht mit Value-for-Money-Benchmarks den Fokus auf den Kundennutzen. Insgesamt verlagert sich die Regulatorik zunehmend von der reinen Erfüllung formaler Vorgaben hin zur Frage nach der Qualität ihrer Umsetzung – sei es bei Solvenz, digitaler Widerstandsfähigkeit oder Kosten-Nutzen-Relation von Produkten.
Orientierung und Vertrauen in Zeiten des Wandels
Die wachsende Komplexität des Marktes stellt Verbraucher, Anbieter und Vermittler vor große Herausforderungen. In einem Umfeld, das von wirtschaftlicher Unsicherheit, technologischem Wandel und hohen regulatorischen Vorgaben geprägt ist, gewinnen transparente Einblicke in die Zukunfts- und Servicefähigkeit der Lebensversicherer zunehmend an Bedeutung. Analysen und unabhängige Bewertungen schaffen hier Orientierung und Klarheit. Sie helfen Anbietern, sich im Wettbewerb zu differenzieren, das Vertrauen ihrer Stakeholder zu stärken und die eigene Wettbewerbsposition zu steigern. Gerade in Zeiten des Wandels erweist sich diese Transparenz als entscheidender Erfolgsfaktor.
Autor: Lars Heermann (Bereichsleiter Assekurata Rating-Agentur GmbH)

