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Gas und Atomkraft in der EU-Taxonomie – Notwendige Transitionstechnologien oder regulatorisch gefördertes Greenwashing?

Wenn es nach der EU-Kommission geht, gilt Energie aus fossilem Gas und Atomkraft zukünftig als nachhaltig. Damit löst man sich ein Stück weit vom technologieneutralen und wissenschaftsbasierten Ansatz der EU-Taxonomie. Kritiker bemängeln nicht nur den Einfluss von Lobbyorganisationen und Mitgliedsstaaten, sondern befürchten auch eine Abwertung der Taxonomie.

Das Jahr 2022 begann von Seiten der EU-Kommission gleich mit einem Paukenschlag: Entgegen massiver Kritik von Umweltverbänden, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und auch einzelner Mitgliedsstaaten sollen die Energieerzeugung aus Gas und Atomkraft im Sinne der EU-Taxonomie als nachhaltig definiert werden. Die EU-Taxonomie ist ein Klassifizierungswerk, das festlegt, welche Wirtschaftsaktivitäten unter welchen Bedingungen als nachhaltig gelten. Die Energieerzeugung aus Gas und Atomkraft ist aus Nachhaltigkeitsgesichtspunkten durchaus kritisch zu betrachten, da diese Verfahren im Vergleich zu den erneuerbaren Energien als emissionsintensiv gelten. Hinzu kommt die Endlagerungsproblematik des Atommülls.

Trotzdem betrachtet die EU-Kommission diese Technologien als Mittel zur Erleichterung des Übergangs zu einer überwiegend auf erneuerbaren Energien basierenden Zukunft. Bei dieser Einschätzung habe man sowohl wissenschaftlichen Rat, den aktuellen technologischen Fortschritt als auch die unterschiedlichen Herausforderungen bei der Transition in den einzelnen Mitgliedsstaaten berücksichtigt. Richtig ist, dass die EU-Taxonomie explizit auch Transitionstechnologien erfasst und eine Klassifizierung dieser als nachhaltig zulässt. Dies geht bereits aus dem Technical Report der Technical Expert Group (TEG) on Sustainable Finance hervor, einem Expertengremium, welches auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse die „Rohversion“ der EU-Taxonomie geschaffen hat. In dieser ist Taxonomiekonformität allerdings daran gebunden, dass die Transitionstechnologie

  1. Treibhausgasemissionen aufweist, die der besten Leistung in dem Sektor oder der Industrie entsprechen;
  2. die Entwicklung und den Einsatz von kohlenstoffarmen Alternativen nicht behindert; und
  3. nicht zu einer Bindung an kohlenstoffintensive Anlagen führt, wenn man die wirtschaftliche Nutzungsdauer dieser Anlagen berücksichtigt.

Im Kontext der Energieerzeugung aus Gas und Atomkraft ist zu hinterfragen, ob deren Förderung nicht den Ausbau erneuerbarer Energien einschränkt (Punkt 2), weil die (noch) günstigeren Transitionstechnologien als gleichwertige ökologische Alternative betrachtet werden. Ebenso könnte der Bau neuer Gas- oder Atomkraftwerke zu einer langfristigen Bindung an diese kohlenstoffintensiven Anlagen führen (Punkt 3).

Technische Screening Kriterien determinieren die Taxonomiekonformität

Wichtig ist allerdings, dass die Verordnung nicht alle Gas- und Atomkraftwerke uneingeschränkt als ökologisch nachhaltig anerkennt. Die Klassifizierung ist an die Erfüllung technischer Screening-Kriterien gebunden, welche am 2. Februar 2022 in einem Entwurf für einen Delegierten Akt zur Erweiterung der EU-Taxonomie veröffentlicht wurden. Für Gaskraftwerke, für die bis zum 31. Dezember 2030 eine Baugenehmigung vorliegt, gilt beispielsweise ein Schwellenwert von maximal 270g CO2e pro erzeugter kWh Energie. Danach sinkt dieser Wert auf 100g CO2e / kWh. Zum Vergleich: Für Windenergieerzeugung an Land (onshore) rechnet das Umweltbundesamt inkl. Vorkette mit rund 10g CO2e/kWh. Kraftwerke mit Baugenehmigung bis 2030 müssen zusätzlich eine fossile, emissionsintensive Stromerzeugungstätigkeit ersetzen und bis 2035 auf die Umstellung zur vollständigen Nutzung erneuerbarer bzw. kohlenstoffarmer Brennstoffe ausgelegt sein.

Die Kriterien legen ebenfalls einen Fokus auf Methan, dem laut sechstem Sachstandsbericht des Weltklimarats eine große Rolle beim Klimawandel zukommt. Probleme bereiten hier Leckagen in den Pipelines, durch die das klimaschädliche Gas oft unbeobachtet austritt. So sollen Messgeräte zur laufenden Überwachung von unkontrollierten Methanaustritten installiert werden und entsprechende Leckagen geschlossen werden.

Für die Taxonomiekonformität neuer und bestehender Atomkraftwerke gelten Anforderungen an den EU-Mitgliedsstaat, in dem die Anlage errichtet wird bzw. wurde. Beispielsweise müssen Fonds für die Entsorgung radioaktiver Abfälle und für die Stilllegung von Kraftwerken bestehen. Zudem muss der Staat über einen dokumentierten Plan mit detaillierten Schritten verfügen, um bis 2050 ein Endlager für hochradioaktive Abfälle in Betrieb zu nehmen. Für neue Anlagen selbst gilt, dass sie die beste verfügbare Technologie nutzen müssen. Von bestehenden Kraftwerken werden alle vernünftigerweise durchführbaren Sicherheitsverbesserungen gefordert. Neue und bestehende Atomkraftwerke müssen außerdem ab 2025 sogenannte „accident-tolerant fuels“ (unfalltolerante Brennstoffe) nutzen.

In einer vorab durchgesickerten Version des Gesetzentwurfs war die Einschränkung „ab 2025“ noch nicht enthalten, was eine kritische Reaktion der Atomkraftindustrie zur Folge hatte. Darin warnte eine Branchenvertreterin, dass aktuell kein Atomkraftwerk diese Anforderungen erfüllen könne, da diese Brennstoffe zurzeit erst entwickelt werden und noch nicht zur Verfügung stehen.

Für die Erzeugung der Energie aus Atomkraft gilt ebenfalls ein Schwellenwert von maximal 100g CO2e/kWh. Als wichtiges „Do-no-significant-harm“-Kriterium ist zudem zu nennen, dass ein Plan für die Entsorgung von nichtradioaktivem und radioaktivem Abfall vorhanden ist und eine maximale Wiederverwendung oder Wiederverwertung dieser Abfälle gewährleistet wird. So soll das Umweltziel Nummer vier der EU-Taxonomie „Wandel zu einer Kreislaufwirtschaft“ unverletzt bleiben.

Die hier skizzierten und eine Vielzahl weiterer Kriterien, die im Detail den Anhängen des Gesetzesentwurfs zu entnehmen sind, legen den Fokus auf die Rolle dieser Wirtschaftsaktivitäten als Transitionstechnologien.

Abwertung der EU-Taxonomie als eindeutiger Standard für Nachhaltigkeit befürchtet

Trotz der einschränkenden Kriterien steht die Integration von Gas und Atomkraft in die EU-Taxonomie im Gegensatz zu den wissenschaftsbasierten Empfehlungen der TEG. Mitglieder der TEG haben sich teilweise sehr klar gegen die Entscheidung der EU-Kommission positioniert. Kritiker befürchten zudem, dass die Kommission die Taxonomie und deren Glaubwürdigkeit damit noch vor ihrem Inkrafttreten begraben hat. Luca Bonaccorsi, Mitglied der TEG, vergleicht den Taxonomie-Entwurf der TEG mit einem leckeren Kuchen, den die EU-Kommission durch die Zugabe von Mayonnaise, Chilis, Senf und Tomaten verdorben hat.

Aus den Erwägungsgründen der finalen Verordnung geht hervor, dass die Kriterien auf wissenschaftlichen Nachweisen beruhen sollen. Die EU-Kommission steht nun in der Kritik, sich zugunsten der politischen und wirtschaftlichen Interessen von einzelnen Mitgliedsstaaten und Lobbyvertretern von diesem Ansatz entfernt zu haben.

Um mehr Transparenz hinsichtlich dieser sensiblen Themen zu schaffen, schreibt die EU-Kommission in dem neuen Entwurf spezielle Veröffentlichungspflichten vor. So muss ausgewiesen werden, welcher Anteil der taxonomiekonformen und taxonomiefähigen (die Aktivitäten, die grundsätzlich in den Anwendungsbereich der EU-Taxonomie fallen) auf Wirtschaftsaktivitäten in Zusammenhang mit fossilem Gas oder Atomkraft entfällt. Dies klingt zunächst positiv, können so interessierte Kapitalanleger leichter ungewollte Investments vermeiden. Jedoch stößt dieses Vorgehen eine neue Tür auf: Die Differenzierung zwischen den als ökologisch nachhaltig klassifizierten Wirtschaftsaktivitäten. Mit der Taxonomie wollte man eine einheitliche Definition von dem schaffen, was in einem gemeinsamen, europäischen Verständnis als nachhaltig gilt. Nun ist es denkbar, dass beispielsweise deutsche Investoren „taxonomiekonforme Investments exkl. Atomkraft“ als nachhaltig betrachten. Einzelne deutsche Versicherer haben bereits angekündigt, trotz der Entscheidung der EU-Kommission nicht in Atomkraft investieren zu wollen. Andere wiederum könnten kein Problem bei der Atomkraft sehen, bei der Gasenergieerzeugung jedoch schon, darüber hinaus wäre auch der Ausschluss beider Technologien möglich.

Österreich und Luxemburg wollen die Taxonomie in der vorliegenden Form jedenfalls nicht akzeptieren und haben angekündigt, dagegen zu klagen. Die Europagruppe der Grünen will hingegen nach Aussage ihres Sprechers Rasmus Andersen das Inkrafttreten der neuen Regelung auf parlamentarischem Weg verhindern.

Erweiterung der Taxonomie um „braune Wirtschaftsaktivitäten“ könnte Abhilfe schaffen

Dass es bei nachhaltiger Geldanlage nicht nur 0 oder 1 gibt, sondern durchaus auch Graubereiche, ist keine neue Erkenntnis. So sollte beispielsweise bei der Anlage in Nachhaltigkeitsfonds nicht blind davon ausgegangen werden, dass diese vollumfänglich nachhaltig anlegen. Einerseits haben die nachhaltigen Anlagekriterien verschiedener Fonds höchst unterschiedliche Ambitionsniveaus. Auch eine Einordnung nach Art. 8 oder 9 der Transparenz-Verordnung schafft hier nur bedingt Klarheit, da die Einstufung durch die Anbieter selbst vorgenommen wird und es auch innerhalb der beiden Kategorien zu sehr unterschiedlichen Ausgestaltungen von Nachhaltigkeitskriterien kommen kann. Eine Analyse der NGO Finanzwende resümiert, dass beispielsweise über 70 Prozent der nachhaltigen Investitionen im Bereich Energie in fossilen Energien liegen. Zudem würden sich nachhaltige Fonds, die oft auf Basis eines bereits existierenden Fonds aufgesetzt wurden, kaum von ihren konventionellen Pendants unterscheiden.

Andererseits bleibt das grundsätzliche Problem, dass Nachhaltigkeit ein Begriff ist, zu dem jeder einzelne ein höchst subjektives Bild hat. Trotzdem besteht die große Hoffnung hinsichtlich der EU-Taxonomie, dass sie einen gemeinsamen (Mindest-)Standard schaffen kann, um so eine größere Transparenz und Vergleichbarkeit im Markt für nachhaltige Kapitalanlagen zu schaffen.

Je mehr man die hohen Anforderungen der EU-Taxonomie jedoch verwässert, desto weniger kann sie als allgemein akzeptiertes Definitionswerk fungieren. Während institutionelle Investoren dringend nach Orientierung und klaren Vorgaben für nachhaltige Kapitalanlagen suchen, kann der Wert einer einheitlichen Taxonomie nicht stark genug betont werden. Diese läuft nun Gefahr, durch die Hinzunahme von kontroversen Aktivitäten die Anerkennung ihrer Rolle als Standard für nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten einzubüßen.

Die Platform on Sustainable Finance, eine ständige Expertenkommission, die die EU-Kommission zu Sustainable Finance Themen berät, befindet sich zurzeit in einem Konsultationsverfahren zu einer möglichen Erweiterung der EU-Taxonomie. Dabei geht es darum, ob neben taxonomiekonformen Aktivitäten, die einen signifikanten Beitrag („substantial contribution“, SC) zu einem der Umweltziele leisten, zusätzlich umweltschädliche („significant harm“, SH) und unwesentliche Tätigkeiten („no significant impact“, NSI) ausgewiesen werden sollen (siehe Abbildung).

Mit der Hinzunahme von umweltschädlichen Aktivitäten würde aus der Zweiteilung eine Dreiteilung. Auf diese Weise hätte man Atomkraft und Gas nicht zwangsläufig als gleichwertig zu erneuerbaren Energien ausweisen müssen, um sie von klimaschädlichen Technologien wie der Kohleenergieerzeugung zu differenzieren. Stattdessen hätte man sie in der Mitte eingeordnet – nicht vollkommen nachhaltig, aber eben auch nicht vollkommen klimaschädlich. Ein Kompromiss, mit dem vermutlich viele Seiten hätten leben können.

Autor: Oliver Bentz (Senior-Analyst Assekurata Assekuranz Rating-Agentur GmbH)